Zeiterfassung versus Vertrauensarbeitszeit

Home-Office

Schon allein um die 11 Stunden Ruhezeit einzuhalten, verlangt der Europäische Gerichtshof von den Arbeitgebern die Zeiterfassung

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, soll Lenin gesagt haben. So urteilte auch das EuGH und verlangte von den Arbeitgebern, die sogenannte Vertrauensarbeitszeit zugunsten einer genauen Zeiterfassung abzuschaffen. Geschehen? Nichts!

Wer genau erfasst, macht sich möglicherweise strafbar

In einem Gespräch mit DOKTUS erinnert sich der ehemalige Lokalredakteur Rüdiger S. daran, wie es in seiner Redaktion eines Tages beinahe zum Aufstand gekommen wäre. „Unser Redaktionsleiter verteilte eines Tages Stundenzettel, mit denen wir unsere Arbeitszeiten festhalten sollte. Sofort murrten alle auf und jeder fragte, was das nun wieder soll. Unser Chef zuckte nur mit den Schultern und meinte, es sei eine Anweisung aus der Chefredaktion. Alles Diskutieren half nichts. Jetzt sollte jeder chronisch überabeitete Redakteur zusätzlich auch noch seine Arbeitszeiten genau dokumentieren. Wir taten es widerwillig, aber exakt. Nach der ersten Woche reichte ich meinen Erfassungsbogen, wie angewiesen, bei der Redaktionsleitung ein. Umgehend wurde ich zum meinem Chef gerufen, der mir erklärte, er werde das nicht unterschreiben, weil er sich sonst strafbar machen würde. Auf meinem Zettel standen 75 Arbeitsstunden. Am Ende blieb alles beim Alten.“

15.000 Euro Bußgeld bei erheblicher Überschreitung der Arbeitszeit

Rüdigers Redaktionsleiter hatte tatsächlich Recht. Denn eine solch erhebliche Überschreitung der erlaubten Arbeitszeit kann heute mit bis zu 15.000 Euro Bußgeld bestraft werden. Auch wenn diese Episode schon mehr als 20 Jahre her ist, so ist sie bis heute aktuell, denn sie zeigt, zu welchen Auswüchsen die sogenannte „Vertrauensarbeit“ führen kann. Bei diesem Arbeitszeitmodell kommt es nämlich nicht auf die Arbeitszeit selbst, sondern auf das Ergebnis an. Der Arbeitgeber schenkt dem Arbeitnehmer das Vertrauen, dass dieser seine Arbeit in angemessener Zeit erledigt. In den letzten Jahren hat sich dieses Modell deutlich ausgeweitet. Vor allem in den kreativen Berufen setzen Arbeitgeber häufig auf die Vertrauensarbeitszeit. Auch in der IT-Branche spielt sie eine große Rolle, denn viele Programmierer lassen sich zum Beispiel ungern in das Korsett einer straffen geregelten Arbeitszeit pressen. Häufig führt das zu selbstausbeuterischen Arbeitssituationen, die dem Arbeitsschutz Hohn sprechen. Gerade in jungen Start-Up Unternehmen gibt es bisweilen einen wahren Wettbewerb, wer am längsten am Computer arbeiten kann, ohne zusammenzubrechen.

 

 

 

EuGH killt Vertrauensarbeitszeit

Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 14. Mai 2019 sollten solche Praktiken nun eigentlich der Vergangenheit angehören. Geklagt hatte die spanische Gewerkschaft CCOO gegen die Deutsche Bank in Spanien. Das Geldinstitut sollte durch eine klare Arbeitszeiterfassung geleistete Überstunden transparent machen. In dem Urteil heißt es: „Um die praktische Wirksamkeit der von der Arbeitszeitrichtlinie und der Charta verliehenen Rechte zu gewährleisten, müssen die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber daher verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.“

Home-Office versus Zeiterfassung

Im Grunde wäre mit dem Urteil alles gesagt und das Ende des Modells der Vertrauensarbeit gekommen. Was die Richter allerdings nicht ahnen konnten: Kein Jahr nach diesem Urteil wurde ein anderes Arbeitsmodell brennend aktuell: Die Arbeit im Home-Office. Die Corona-Epidemie hatte die Arbeitswelt völlig auf den Kopf gestellt. Branchen, die bis dahin feste Büroarbeitszeiten kannten, mussten mit einem Mal umdenken. Das Home-Office ist ohne das Vertrauen des Arbeitgebers in seine Beschäftigten gar nicht vorstellbar. Allerdings verpflichtet das Urteil des EuGHs die Bundesregierung das deutsche Arbeitsrecht dem Richterspruch anzupassen. Tut sie das nicht, droht der Bundesrepublik ein Vertragsverletzungsverfahren.

Das Bundesarbeitsgericht geht in Opposition zum EuGH

Von einer Umsetzung des Urteils scheint die Bundesrepublik aber noch ein gutes Stück entfernt. Das zeigt das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes in Erfurt vom 4. Mai diesen Jahres. In einem Verfahren um Überstunden urteilten die Richter, dass der Arbeitnehmer für die Erfassung der Arbeitszeit selbst verantwortlich ist. Im vorliegenden Fall hatte ein Auslieferungsfahrer auf die Bezahlung von Überstunden geklagt. Die Arbeitszeiterfassung hatte nur den Beginn und das Ende der Arbeitszeit enthalten, nicht aber die Pausen. Der Kläger hatte argumentiert, dass er gar keine Pausen habe nehmen können, weil er sonst sein Pensum gar nicht geschafft hätte. Sein Arbeitgeber hatte das allerdings bestritten. Der Kläger verlor den Prozess, weil das Bundesarbeitsgericht es nicht als erwiesen sah, dass der Kläger tatsächlich in den Pausen gearbeitet habe. Dies habe er nicht ausreichend dokumentieren können.

Jetzt ist die Koalition dran

Wie eine klare und nachvollziehbare lückenlose Dokumentation der Arbeitszeit in ein Gesetz gegossen werden kann, ist im Moment noch völlig unklar. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung steht zumindest nichts darüber, dass die Vertrauensarbeit abgeschafft werden soll. Im Gegenteil, sie soll ausdrücklich für „innovative Technologien“ weiterhin möglich sein. Vielleicht wird es zu einem Machtkampf über dieses Thema in der EU kommen.

In der Vergangenheit gab es allerdings auch Beispiele, wie Unternehmen auf sehr kreative Art und Weise Bestimmungen zur Arbeitszeit umgangen haben. So hatte ein Berliner Kaufhaus seine Mitarbeiter kurzerhand zu Führungskräften befördert, für die die gesetzlichen Arbeitszeitregelungen gar nicht gelten.

Solche Kniffe sind allerdings nicht im Sinne des Arbeitsrechtes. DOKTUS rät Unternehmen, gerade übermotivierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Sachen Arbeitszeit genauer im Auge zu behalten und ihnen gegebenenfalls zu empfehlen, auch mal einen Gang herunterzuschalten. Langfristig ist das zum Wohle beider: Dem Arbeitgeber und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Peter S. Kaspar