Der große Abschied

Kündigung

Wenn Arbeitnehmer ihrem Chef die rote Karte zeigen

Seit einigen Wochen geistert ein neuer Begriff durch die Medienlandschaft: „The Big Quit“. Es hätte durchaus Chancen zum„Wort des Jahres 2022“ zu werden. Für die Arbeitsmedizin ist es ein viel beachtetes Phänomen, das mit in die Beratungstätigkeit fließen sollte. Es lässt sich etwas frei mit „Der große Abschied“ übersetzen. Doch was klingt wie ein Film-Noir-Titel bezeichnet ein Phänomen, das auf den ersten Blick mit der Corona-Pandemie zu tun hat, aber eben nicht nur. Es geht darum, dass viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht mehr an ihren angestammten Arbeitsplatz zurückgekehrt sind oder eben kündigen. DOKTUS hat ein wenig herumgefragt.

Abschied aus Läden, Kneipen und Ehrenamt

„Wir finden einfach niemand mehr“, sagt ein Wirt aus Berlin-Kreuzberg, der vor drei Jahren noch vier Mitarbeiterinnen beschäftigte, nun ist es nur noch eine. Ein Kollege von ihm musste in den letzten Monaten zwei Mal für eine Woche schließen, weil es ihm an Personal mangelte. Ähnliches ist aus dem Einzelhandel zu hören. Sogar das Ehrenamt hat unter dem Phänomen zu leiden. Eine Mitarbeiterin des Bezirksamtes Friedrichshain-Kreuzberg berichtet, dass die Zahl der ehrenamtlichen Helfer im Gratulationsdienst um 15 Prozent zurück gegangen ist. Nach einer Umfrage von SD-Work haben in Deutschland sechs Prozent der Beschäftigten ihren Arbeitsplatz aufgegeben. Damit liegt Deutschland an der Spitze in Europa.

Keine Vollbeschäftigung trotz Arbeitskräftemangel

Es ist aber bei weitem nicht so, dass in Deutschland nun wieder Vollbeschäftigung herrschen würde, wie zu Zeiten des Wirtschaftswunders. Trotzdem laufen in vielen Branchen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Scharen davon. Im Pflegebereich etwa, wo nun während der Pandemie Hochbetrieb herrschte, gingen die Zahlen erheblich zurück und das in einer Zeit, da man sowieso schon vom Pflegenotstand spricht. Doch viele Pflegerinnen und Pfleger empfanden die Arbeitsbedingungen als so unerträglich, dass sie nur noch einen Weg sahen, nämlich die Kündigung einzureichen. Anders die Lage in der Gastronomie. Personal, das sich während der Schließungen in der Branche, anderweitig umschauen musste, fand besser bezahlte Jobs mit akzeptableren Arbeitszeiten.

Gründe sind häufig die Arbeitsbedingungen

Bei der Suche nach den Gründen dafür, dass sechs von hundert Beschäftigten ihren Job aufgeben, stößt man immer wieder auf das Wort „Arbeitsbedingungen“. Die Bezahlung ist meist gar nicht der ausschlaggebende Grund, sondern die Empfindung, dass einen die Arbeit auf Dauer buchstäblich krank macht. Auch „mangelnde Wertschätzung“ wird häufig als Begründung bei einem Jobwechsel genannt. Spätestens an diesem Punkt sollten Arbeitgeber stutzig werden. Denn offensichtlich ist für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Geld eben doch nichts alles.

Was macht Beschäftigte krank?

Meist geht es um den Druck, dem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgesetzt sind und mit dem manche nicht umgehen können. Paradoxerweise wurde der in so manchem Unternehmen sogar noch durch ein Instrument erhöht, das während der Pandemie eingeführt wurde: das Homeoffice. Viele empfanden diese neue Arbeitsform zunächst als angenehm und befreiend. Doch das änderte sich zunehmend, denn mancher Arbeitgeber verstand unter Homeoffice auch, dass seine Mitarbeiter nun rund um die Uhr abrufbereit waren. Nicht selten erfolgte die Quittung dafür mit einem Brief, der die Kündigung enthielt.

Betriebsmedizin – die richtige Medizin gegen den großen Abschied?

Noch untersuchen Institute und renommierte Unternehmen wie Price Waterhouse Cooper (PWC) das Phänomen „The Great Resignation“, wie „The Big Quit“ ebenfalls genannt wird. Für abschließende Antworten ist es also noch etwas früh. Doch vieles deutet darauf hin, dass Unternehmen, die frühzeitig die Pflicht eines arbeitsmedizinischen Angebots auch als Chance zu Verbesserung der Arbeitsbedingungen begriffen haben, heute deutlich besser dastehen, als Unternehmen, die nun laut den „Big Quit“ beklagen. Gerade die präventiven Angebote von Betriebsärzten und Betriebsärztinnen sind ja darauf angelegt, dass sich die Situation des Arbeitnehmers so stabil hält, dass er sich an seinem Arbeitsplatz auch wohl fühlt.

Arbeitsmedizin ist keine lästige Pflichtaufgabe

„The Big Quit“ zeigt dramatisch auf, dass gut funktionierender Arbeitsschutz, einhergehend mit effektiver Arbeitsmedizin, eben keine lästige Pflichtaufgabe ist, deren Vernachlässigung nur Folgen bei einem Unfall oder einer extrem unwahrscheinlichen Prüfung hat. Dieses neue Phänomen zeigt, dass Arbeitsmedizin auch systemisch für jedes Unternehmen von extrem wichtiger Bedeutung ist.

Peter S. Kaspar