Berufskrankheiten im Wandel der Zeit

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Wer in den Geschichtsbüchern der Arbeitsmedizin blättert, wird schnell feststellen, dass die alten Ägypter schon die Staublunge kannten und die Krankheit in einen Zusammenhang mit der Arbeit der Steinmetze an den großen pharaonischen Monumenten brachten. Lungenkrankheiten blieben lange, lange Zeit eines der größten Probleme der Berufsmedizin. Nicht nur Steinmetze, sondern auch Bergleute, Zimmerleute, Müller, Bäcker und später Arbeiter, die mit Asbest umgingen, rangen bei ihrer Arbeit buchstäblich um Luft. Husten wurde fast zu einem Synonym für die Berufskrankheit an sich. Zwar spielen Lungenkrankheiten bis zum heutigen Tag eine Rolle in der Betriebsmedizin, doch längst stehen ganz andere Bedrohungen am Arbeitsplatz im Vordergrund. Aktuell stehen psychische Gefahren im Mittelpunkt des Interesses. Doch das muss nicht so bleiben. Die Arbeitswelt ändert sich gerade ebenso rasant wie radikal. Das wird auch an der Betriebsmedizin nicht spurlos vorübergehen. Was werden die Herausforderungen der Zukunft sein? Mit welchen Berufskrankheiten, deren Namen heute noch niemand kennt, werden sich Arbeitsmediziner auseinandersetzen müssen? DOKTUS wagt einen Blick in die Zukunft, dorthin, wo noch kein Betriebsarzt gewesen ist.

Vom Kommen und Gehen

Schon die Namen klangen einst bedrohlich: Phosphornekrose, Quecksilber Erethismus, Skrotalkarzinom oder Radium-Kiefernekrose. Sie haben alle zwei Dinge gemein. Sie waren einst alle gefürchtete Berufskrankheiten und sie sind nun alle buchstäblich ausgestorben. Das liegt zum Teil daran, dass es die betreffenden Berufe nicht mehr gibt oder daran, dass die Stoffe, die diese schrecklichen Berufskrankheiten hervorriefen, verboten worden sind. So betraf die Phosphornekrose Arbeiterinnen und Arbeiter, die in Zündholzfabriken beschäftigt waren. Inzwischen ist der Weiße Phosphor, der einst unabdingbar nötig war, um Zündhölzer herzustellen, verboten. Zudem hat die Streichholzindustrie enorm an Bedeutung verloren. Leuchtende Zifferblätter sind im Zeitalter von Digitaluhren und Smartwatches praktisch ausgestorben und mit ihnen die Radium-Kiefernekrose verschwunden, die jene befiel, diese Zifferblätter bemalten. Filzhutmacher sind verschwunden und mit ihnen der Quecksilber Erethismus. Schornsteinfeger gibt es zwar noch, doch dank moderner Verfahren spielt das Skrotalkarzinom praktisch keine Rolle mehr.

Was wird die Zukunft bringen?

Zwar nährt die Betriebsmedizin die Hoffnung, dass Arbeitsplätze im Laufe der Zeit immer sicherer werden. Das stimmt in gewisser Weise auch für allgemein bekannte Arbeitsplätze. Doch neue Entwicklungen und neue Technologien bringen auch neue Gefahren mit sich. Ein Beispiel: Noch sind es nur eine Handvoll Menschen, die jedes Jahr ins All fliegen. Doch das kann sich in den nächsten Jahrzehnten ändern, wenn etwa bestimmte Produktionslinien in die Erdumlaufbahn verlegt werden, weil die Herstellung entweder ein Vakuum oder Schwerelosigkeit erfordert. Es gibt Überlegungen, die Bodenschätze des Mondes auszubeuten, was ebenfalls Arbeitskräfte erfordern wird. Betriebsärztinnen und Betriebsärzte werden dann mit neuen, vielleicht auch unbekannten Krankheiten konfrontiert werden, die in der Schwerelosigkeit oder der kosmischen Strahlung begründet sind. Es wird auch neue psychische Anforderungen geben, die bislang eher in den Ansätzen als in ihrem vollen Umfang erkennbar sind.

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Vom Ungemach auf der Erde

Doch man muss nicht erst ins Weltall reisen, wenn man künftigen Berufskrankheiten nachspürt. Eine mögliche Berufskrankheit, die sich, zumindest schemenhaft, schon abzeichnet, ist das digitale Erschöpfungssyndrom. Die beständige Arbeit am Bildschirm, die oft auch die Pausen einschließt, wenn der Monitor durch das Tablet ersetzt wird, der Zwang zur Multitasking-Fähigkeit, kann zur chronischen Müdigkeit führen, begleitet von Kopfschmerzen und Schlafstörungen. Doch es gibt noch eine andere digitale Berufskrankheit der Zukunft, die weitaus gefährlicher werden könnte: die VR-Desorientierung. Bereits jetzt spielen Virtuelle Realität und Augmented Reality eine wichtige Rolle in vielen zukunftsorientierten Unternehmen. Das Eintauchen in eine völlig andere Welt kann auch Gefahren mit sich bringen. Vielleicht wird man bald von der VRDO oder dem VR-Syndrom sprechen. Symptome wären Gleichgewichtstörungen, Übelkeit oder kognitive Verwirrtheit in einer milderen Form. In der schwereren Ausprägung könnten Psychosen und Verfolgungswahn hinzukommen. Wobei das Arbeiten mit der Augmented Reality, wo wenigstens noch ein Teil der Realität abgebildet wird, weniger anfällig wäre als die Virtuelle Realität, die eine komplett eigenständige Welt erschafft. Der Hang zu Abkürzungen in der Medizin könnte in der Zukunft zu Verwirrungen führen, wenn AIDS nicht mehr für eine Immunschwächekrankheit steht, sondern für Artificial Intelligence Decision Stress. Tatsächlich wird der „Künstliche Intelligenz Entscheidungs-Stress“ eine Rolle bei Entwicklern spielen. Autonome Systeme, die sich nicht mehr einfach über beliebige Eingaben steuern lassen, werden zwangsläufig immer wieder zu Entscheidungskonflikten mit den sie bedienenden Menschen führen. Bei denen kann das zu Entscheidungsblockaden und Angstzuständen führen. 
Aber auch neue körperliche Berufskrankheiten können entstehen. Nanopartikel können die Rolle einnehmen, den früher der Staub hatte. Hier besteht die Herausforderung in erster Linie im technischen Bereich, um zu verhindern, dass Nanopartikel austreten.

Nichts ist in Stein gemeißelt

Ob das alles so kommt? Ungewiss. Doch eines mögen diese Beispiele verdeutlicht haben: Zwar sind viele Berufskrankheiten von einst ausgestorben, doch die Arbeitsmedizin wird sich in Zukunft neuen Herausforderungen stellen müssen. Die genannten Beispiele sind zwar noch nicht Realität geworden, doch es gibt Hinweise darauf, dass sie es bald werden könnten. Und sicher warten in Zukunft auch noch Krankheiten, von denen wir heute noch keine Ahnung haben.

Peter S. Kaspar

Bildquelle: iStock, Yutthana Gaetgeaw

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